Mittwoch, 19. September 2012

"Vor lauter Lust verhungern":

Bei den Versuchen mit elektrischer Hirnreizung machte 1953 der amerikanische Hirnforscher James Olds eine Entdeckung von großer Bedeutung. Eine Ratte mit einer Elektrode in ihrem limbischen System mochte offenbar den elektrischen Reiz. Erst glaubte Olds, er habe sie neugierig gemacht. Dann bemerkte er, dass er durchaus mehr als Neugier hervorrief. Wenn man den Tieren die Gelegenheit gab, den Reiz durch einen Tastendruck selber auszulösen, sich also selber elektrisch zu stimulieren, so stimulierten sie sich unentwegt. Offenbar empfanden sie diese Reizung irgendwie als positiv, angenehm, sie verschaffte ihnen Lust, Freude, Vergnügen, Glück.
In der Folge wurde erkundet, in welchen Gehirnregionen sich diese positiven Gefühle auslösen ließen: Sie reichten von den vorderen Teilen des Cortex über das Limbische System bis hinab in den Hirnstamm. Nirgendwo aber trat sie so stark und rein auf wie im basalen Vorderhirnbündel, einem Nervenkabel, das aus dem Riechzentrum durch den Hypothalamus in den Hirnstamm zieht: In diesem Strang müssen die meisten Lustsysteme des Gehirns zusammenlaufen. Wie sich die künstlich hergestellte, reine Lust anfühlt, ist offenbar kaum zu beschreiben. Manche Patienten fühlten sich dem Orgasmus nahe. Die meisten "äußern sich vage und wirr hinsichtlich ihrer Erlebnisse und der Gründe, warum die Reize ihnen gefallen; aber sie lassen keinen Zweifel daran, dass sie sie wünschen" (Richard F. Thompson).
Die Entdeckung des Lust- oder "Belohnungssystems" (oder wohl eher mehrerer ineinander verschachtelter Belohnungssysteme) machte die bis dahin vorherrschenden Theorien über das Zustandekommen "motivierten" Verhaltens fragwürdig. Die eine war die mechanistische Theorie. Ihr zufolge gibt es keine allgemeine Motivation; jeder Reiz löse vielmehr eine ihm zugeordnete Reaktion aus. Die andere war die Triebreaktionstheorie. Ihr zufolge erzeugen die verschiedenen Triebe Spannungen, die das Lebewesen "motivieren", sie zu verringern- Tiere (und Menschen) handeln, um die als unangenehm erlebten Triebspannungen abzubauen.
Das aber stimmt wohl nicht oder nicht ganz: Sie handeln auch, wie sich zeigte, um sich die verschiedenen Lustempfindungen zu verschaffen. Eine eindrucksvolle Demonstration lieferten jene Tiere - von Ratten bis hin zum Rhesusaffen -, die sich selber aussuchen konnten, ob sie fressen oder ihre Lustregion stimulieren wollten. Ihr "Fresstieb" versagte - er trieb sie nicht. Eine denkbare Erklärung dafür ist, dass der Nahrungstrieb, der sich subjektiv als das Gefühl des Hungers bemerkbar macht, nicht oder nicht nur über eine direkte Reduzierung des Hungers befriedigt wird, sondern über das Erlebnis des Wohlgeschmacks. Die Natur muss ja nur bewirken, dass das Tier Nahrung zu sich nimmt. Wenn erfahrungsgemäß gutes, nämlich nahrhaftes und ungiftiges Essen, dessen erprobte Güte sich als Wohlgeschmack mitteilt, regelmäßig eine spezifische Lust auslöst, wird das Tier diese gute Nahrung suchen, das Tier wird zum Fressen motiviert, das lebensnotwendige Erlebnis tritt ein. Dass der Fresstrieb auf ein scheinbar nebensächliches Lusterlebnis angewiesen ist, funktioniert deshalb so zuverlässig, weil in der Natur die zuträgliche Nahrungsaufnahme regelmäßig vom Erlebnis des Wohlgeschmacks begleitet ist. Das Tier, das den Wohlgeschmack sucht, wird aller Wahrscheinlichkeit nach auch etwas Bekömmliches zu essen bekommen, genau wie das Tier, das die Lust der Paarung sucht, in aller Wahrscheinlichkeit Nachkommen hervorbringen wird, auch wenn es nicht das geringste über die Zusammenhänge von Paarung und Fortpflanzung weiß. Das Tier, das die Lusttaste betätigte und darüber verhungerte, ist von dem Experiment düpiert worden: Es "weiß" (natürlich nicht bewusst, sondern angeborenermaßen), dass es gesätigt wird, wenn es sich die Lust des Wohlgeschmacks erzeugt, unter natürlichen Bedingungen trifft das auch zu; im Experiment erlebt es die Lust (wahrscheinlich ein ganzes Konglomerat von Lüsten und darunter auch die des Wohlgeschmacks), aber die sonst natürliche Folge der Sättigung bleibt aus.

Dieter E. Zimmer, Die Vernunft der Gefühle, 1981

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